Ein Berliner Beispiel: Essener Str. 23/23A in Moabit. Am 1. März 2018 wurde die große, vitale Ulme in der schmalen Baulücke zwischen Essener Str. 23/23A und Essener Str. 22 gefällt. Es war ein „privater Baum“, der unter gesetzlichem „Baumschutz“ stand. Aber gegen eine „Bauvorbereitende Maßnahme“ kann die für Baumschutz Zuständige im Bezirk Mitte nichts machen. Der Eigentümer hat faktisch Baurecht; es wird ständig überzogen, so dass die Misere von Gründerzeithinterhöfen wiederhergestellt wird. Das wird möglich durch die Missachtung des Berliner „Baunutzungsplans“, der wesentlich geringere Baudichten vorsieht. Der gilt in West-Berlin seit 1960 und wurde nach der Wende 1990 vom Senat als fortgeltend für das ehemalige West-Berlin festgelegt. (Siehe unten: Baugenehmiger in der Falle).

Ulme Essener Str. 23/23A im Herbst

Ulme am 1. März 2018 vor der Fällung
Vernichtung von Mietwohnungen
Hier wurden 23 Altbau-Mietwohnungen in teure Eigentumswohnungen umgewandelt und ist der Neubau von 5 Eigentumswohnungen in der schmalen Baulücke (wo die Ulme stand) samt Dachausbau geplant. Zur Klarstellung: ich habe nichts gegen Eigentumswohnungen, aber viel gegen die Verdrängung von Mietern und die Verschlechterung von Wohnqualität. (Mehr dazu weiter unten: Mieterverdrängung in der „Mieterstadt Berlin“.
„Wohnqualität“ à la Gründerzeithinterhof
Bisher hatten MieterInnen in den Hinterhäusern Essener Str. 23A und Bochumer Str. 20 aus ihren – alleinigen ! – Nordfenstern noch den „freien“ Blick in die Baulücke, zum grünen Ulmenbaum, zur dicken Efeu-Wand in der Baulücke und zu etwas Himmel. Das alles wird ihnen mit dem geplanten Neubau genommen. Licht und Luft für „Gesunde Lebensbedingungen“, die lt. BauGesetzBuch bei jedem Bauvorhaben gewahrt bleiben müssen, spielen keine Rolle, weil die Politik es will, das Bauamt also auch und Mieter (z.B. im Nachbarhaus Bochumer Str. 20) keine Widerspruchsrechte haben.
Fassadengrün wird vernichtet
Die Werbefotos von Property Company für die angepriesenen Altbau-Eigentumswohnungen zeigen: kahle weiße Wände, wo jetzt lebendiges Efeu und Wilder Wein ranken.
https://www.propertycompany.de/index.php?option=com_property&view=property&Itemid=265&lang=de
Oft werden Neubauabsichten mit dem Versprechen geplanter Fassaden- und Dachbegrünung verschönt (um Versiegelung und Versteinerung angeblich auszugleichen). Nicht mal sowas soll es hier geben.
B e g r ü n u n g (als Tat nach dem Bau) wird auch von PolitikerInnen gern gefordert/gelobt. Wo bleibt aber deren Einsatz für den E r h a l t von vorhandenem Grün? Mit allen seinen guten, positiven Wirkungen für Menschen in dicht bebauten Wohngebieten?

Baulücke ohne Ulme, März 2018, noch mit Efeu u Wildem Wein

Hof Essener Str. 23/23A – noch mit dem prächtigen Fassadengrün (Aug. 2018)
Einwohnerzuwachs in grün-unterversorgtem Gebiet ist kontraproduktiv
Politiker und PlanerInnen können wissen, was sie falsch machen, wenn sie Baum- und Grünvernichtung durch Nachverdichtung befürworten. Denn Berlin hat gute Planungsgrundlagen für eine menschenfreundliche und klimabewusste Stadtentwicklung, auf Landes-und Bezirksebene!
Auf Landesebene: das Landschaftsprogramm, die naturschutzfachliche Ergänzung zum Flächennutzungsplan. Es ist behördenverbindlich. Eigentlich.
Berlin hat auch das Planungsinstrumentarium „Umweltgerechtigkeit“, das ökologische und soziale Kriterien für die Stadtentwicklung verbindet. Und: den Stadtentwicklungsplan Klima. Selbst im „Stadtentwicklungsplan Wohnen 2025“, der Wohnungsbau forcieren will, steht: „Verdichtung wirkt dort kontraproduktiv, wo sie die Wohnqualität beeinträchtigt“. (S. 66)
Die Wohnqualität für die schon hier Wohnenden wird durch das Projekt „Essener Str. 23/23A“ massiv beeinträchtigt.
Verwaltungshandeln wider besseres Wissen
Der Bezirk Mitte ist stolz, dass er als erster Bezirk „Bezirksregionenprofile“ für seine 10 Bezirksregionen erarbeiten ließ und beschlossen hat – als Planungsgrundlage für alle seine Fachbereiche, wohlgemerkt.
Die Essener Str. 23/23A liegt in der Bezirksregion Moabit West, dort im Planungsraum „Elberfelder Straße“, der das Westfälische Viertel umfasst. Hier besteht eine massive Unterversorgung mit Grünflächen für die wohnungsnahe Erholung. Der Richtwert (ohnehin nicht üppig) besagt: 6 qm Erholungsgrün/pro Einwohner, das mindestens 0,5 ha groß und maximal 500 Meter von jeder Wohnung entfernt ist. Wir haben hier einen „Versorgungsgrad“ von 2,1 qm/Einwohner. Mit jedem zusätzlichen Einwohner, der durch Neubau hierher gelockt wird, sinkt der Versorgungsgrad weiter.
Als Fazit steht im „Bezirksregionenprofil Moabit-West“ Teil II: „Wohnungsbaupotentiale werden entsprechend außerhalb der Bezirksregion gesehen“. Das hat das Bezirksamt am 16.05.2014 so beschlossen und der Bezirksverordnetenversammlung vorgelegt. Weder Bezirk noch Senat scheren sich um behördenverbindliche Pläne oder eigene Beschlüsse. Was sollen wir BürgerInnen davon halten?
Baugenehmiger in der Falle
Nach Aussage von PlanerInnen in Bezirksverwaltungen fühlen sich die für Baugenehmigungen Zuständigen in einer Falle: Jahre- und jahrzehntelang wurden in West- Berlin Befreiungen von den Festlegungen des Baunutzungsplans zugelassen (manchmal mit Auflagen wie „Hof- oder Fassadenbegrünung“). Daraus leiten jetzt Grundstückseigentümer und z.T. Gerichte her, dass immer ein Anspruch auf Missachtung des Baunutzungsplans durch Befreiungen bestehe, und dann aber kräftig.
Wie kann die Bauverwaltung der „Falle“ entkommen? Indem Politik und Verwaltung klare Regelungen für Grünerhalt und Grünversorgung festlegen und diese in Bebauungsplänen für alle verdichteten Bestandsgebiete festschreiben. Nach heutigem Recht müssen Bebauungspläne auch mit Umweltverträglichkeitsprüfung und Bürgerbeteiligung erarbeitet werden – Oje, die arme überlastete Verwaltung – die sich am liebsten B-Pläne von den Investoren machen lässt: „Vorhabensbezogener Bebauungsplan“ heißt diese Rechtskonstruktion. Die BVV darf ihn dann beschließen.
Wohnraum für eine „wachsende Stadt“ schaffen – bei gleichzeitigem Erhalt von Bäumen und grünen Freiflächen – wie kann das gehen?
Berlin hat seit einigen Jahren Einwohnerzuwachs. Bekanntlich finden Menschen mit niedrigem oder mittlerem Einkommen schwer eine für sie bezahlbare bzw. ausreichend große Wohnung. Wenn Berlin das Wohnraumproblem für alle verträglich lösen wollte, müsste es mit dem Land Brandenburg in ein positives Gespräch über Entlastungsorte an der Schiene eintreten. Dezentrale Arbeitsplätze und Wohnungen sind der Schlüssel für eine gedeihliche Entwicklung Berlins und der Metropolregion. Verzicht auf Finanz-Egoismus des Landes Berlin gehört dazu.
Berlin verlockt mit relativ (!) günstigen Bodenpreisen Investoren von überall dazu, hier Grundstücke – und vorhandene Wohnungen – aufzukaufen. Hier können mit „Betongold“ Gewinne gemacht werden, die in anderen Metropolen nicht mehr zu erzielen sind.
Wenn man trotzdem Grün und Bäume in der Stadt erhalten will, muss man sie planerisch sichern. Vorrangig muss man (d.h. die planende Verwaltung und Politik) in den Gebieten mit bestehendem Grünmangel anfangen und dafür sorgen, dass vorhandene Grüngebiete (und zwar in öffentlichem wie in privatem Eigentum) gesichert werden. Da Grün-Ausweisung im Flächennutzungsplan oder Bereichsentwicklungsplan nur für die Behörden verbindlich sind, müssen Bebauungspläne für privates und öffentliches Grün erarbeitet und beschlossen werden. B-Pläne gelten gegenüber jedermann, auch gegenüber Investoren.
So kann man Bäume und Grünflächen erhalten, wenn Politik und Verwaltung wollen.
Und wo kann in Berlin neu gebaut werden?
Es kann da und so gebaut werden, dass durch Wohnbebauung kein Grünmangel für die vorhandenen bzw. neuen BewohnerInnen entsteht und wo Kleingärten, Grünflächen und Frischluftschneisen nicht beeinträchtigt werden.
Das kann man be- und nachrechnen. Wenn das Ergebnis ist: hier herrscht schon Grünmangel – dann ist hier kein Wohnungsbau zulässig. Egal, ob durch private Investoren oder durch städtische Wohnungsbaugesellschaften. Dazu gehört auch, dass die eigenen Fachpläne zu Grün, Klima, Erholung, Natur und Landschaft eingehalten werden.
Planerisch kann auch festgelegt werden, dass vorhandene große Bäume bei Neubau erhalten werden müssen. Wenn dadurch eine übermäßige Grundstücksausnutzung verhindert wird, wäre das zugleich ein Gewinn an Wohnqualität für die künftigen Bewohner.
Für geplante große Neubaugebiete in Berlin hat übrigens das Abgeordnetenhaus im März 2018 beschlossen, dass dort die Mindestausstattung mit „wohnungsnahem Freiraum“ (Erholungsgrün) von 6 qm/Ew gewährleistet sein soll. Der Senat soll darauf hinwirken! „Wohnungsnah“ heißt: maximal 500 Meter von der Wohnung entfernt, geeignet für die tägliche Erholung am Abend, am Morgen, fürs Kinderspiel. AH Drs. 18/0724
Warum aber Menschen in bestehenden Wohngebieten mit bereits zu geringer Grünversorgung noch schlechter gestellt werden sollen – zugunsten der Investoren – muss man die „Bauen, bauen, bauen!“- Verfechter fragen.
Schon mal von „Grenzen des Wachstums“ gehört? „Berlin gießt Betongold in die letzten Lücken – ein Fehler“ war in der Berliner Zeitung vom 17.07.18 online zu lesen. Ich teile die Befürchtung der Autorin, dass in wenigen Jahren Politik und Verwaltung jammern werden: „Das war ein Fehler! Die Sommer werden immer heißer, das Stadtklima wird unerträglich in den dichten Innenstadtbezirken.“ – Wer erinnert sich nicht an das nachträgliche Eingeständnis führender Berliner Politiker, dass es ein Fehler war, Hunderttausende landeseigener Wohnungen zu verkaufen.
https://www.berliner-zeitung.de/politik/meinung/wohnraum-verdichtung-berlingiesst-betongold-in-die-letzten-luecken—ein-fehler-30969734
Die Autorin Judith Kuckart spricht von „einer übereifrigen, wenig sorgfältigen, auch überforderten Baupolitik“.
Ein weiteres Beipiel sozial fragwürdiger Berliner Baupolitik: Schonung privilegierter Lagen
Der Flächennutzungsplan 2015 von Berlin stellt in Zehlendorf, Grunewald, Frohnau und Köpenick Wohnbauflächen dar, die eine maximale Grundstücksausnutzung von 0.4 GFZ (Geschossflächenzahl) zulassen. Das ist zehnmal weniger, als die Investoren beispielsweise in Moabit durchsetzen und mit Baugenehmigungen abgesegnet bekommen.
Zum Schutz dieser locker bebauten Gebiete, genannt „Landschaftliche Prägung von Wohnbauflächen“ schreibt der FNP auch noch „Nutzungsbeschränkungen zum Schutz der Umwelt“ vor. Hier ist die Umwelt von Privilegierten gemeint.
„Lieber reich und grün als arm und grau“ ist ein spöttischer Merksatz dazu. In diesen Berliner Gebieten kann nach „Wohnbaupotenzial-Flächen“ gesucht werden. Hier sollten städtische Wohnungsgesellschaften, Genossenschaften und Baugruppen Wohnungen errichten, die Qualitäten und Mieten aufweisen, wie die genossenschaftlichen und wohnreformerischen Projekte der 1920er Jahre. Nicht etwa nach dem Beispiel der „OASIS“-Investoren an der Hansabrücke in Mitte.
Zurück zur gefällten Ulme Essener Str. 23/23A und den Folgen:
Mieterverdrängung in der „Mieterstadt Berlin“
Seit März 2018, seit dem Fällen der großen Ulme, sind dort nach und nach die MieterInnen ausgezogen.

Mieter ziehen seit dem Frühjahr 2018 aus

Eigentumswohnungen werden seit Juli 2018 hier angeboten
Einmal habe ich mit einem der Betroffenen gesprochen:
„Sind Sie gekündigt worden?
– Nein, das wäre ja nicht so leicht.
Warum ziehen Sie dann aus?
– Hier soll doch saniert werden.
Hat Ihnen das Ihre Hausverwaltung gesagt?
– Die Hausverwaltung hat eine Agentur beauftragt. Von der Verwaltung haben wir nichts erfahren.“
Ich wollte ihn nicht länger beim Packen des Umzugswagens aufhalten und fragte nicht weiter. Aber ich wüsste gern – und es ist darüber hinaus von allgemeinem Interesse – wer ist diese „Agentur“ und was hat sie mit den Mietern ausgehandelt?
Hat sie nur mit den Unannehmlichkeiten der Bauzeit gedroht?
Hat sie bei der Suche nach einer anderen Wohnung geholfen?
Hat sie sich an den Umzugskosten beteiligt?
Da es Mietshäuser gibt, in denen Mieter sich zusammengeschlossen haben und gegen ihre Verdrängung gemeinsam kämpfen – und damit dem Rechtsgrundsatz „Kauf bricht nicht Miete“ zur Geltung verhelfen – ist es wichtig zu erfahren, ob Investoren mittlerweile „geräuschlose“ Methoden der Mieterexmission erfunden haben, mittels „Agenturen“.
B. Nake-Mann
02./03. 08.2018