Am Freitagmorgen, 22. Juli, wurden MoabiterInnen im Westfälischen Viertel, in der Thusnelda Allee und im Quartier um die Markthalle bis zur St. Paulus Kirche durch einen weißen Schriftzug auf den Gehwegen überrascht. Wörter in schöner, großer Schreibschrift, alle schwungvoll miteinander verbunden. Die Fahrbahnen von Alt-Moabit und Turmstraße werden mit durchgehenden Strichen überwunden.
Wer innehält und sich einliest, erkennt poetische, kritische, lokalhistorische und aktuelle Aussagen. Beispielsweise auf der Essener Straße:
Ein Nachbar ruft mir am Morgen zu: Es geht am Bundesratufer los, an der Spree!
Gegen Mittag gehe ich mit Fotoapparat zum Bundesratufer, zum Beginn, und dann die Dortmunder entlang, fotografiere dort und in der Elberfelder und der Essener Straße.
Blick: Dortmunder Straße Richtung Elberfelder Straße
Der schwungvolle Übergang von der Essener zur Krefelder Straße.
Vor der Heilandskirche wird auf den Namen „Thusnelda Allee“ angespielt.
In der Jonasstraße – unter anderem – eine provozierende Abwandlung des Slogans: Schwerter zu Pflugscharen.
Uns BaumfreundInnen von der Bürgerintiative SilberahornPLUS gefällt, dass die Künstler immer wieder an Bäume erinnern, an die Wohltat begrünter Straßen, an Stadtbäume im Wechsel der Jahreszeiten.
Ich habe das Gedicht nur bis zur Ecke Bremer Straße/Waldenser Straße fotografiert.
Das Korrespondierende Mitglied der Bürgerinitiative SilberahornPLUS aber ist die gesamte Strecke bis zur St.Paulus Kirche gelaufen und hat den Text notiert.
Mehrmals wird er angesprochen: „Können Sie das lesen?“ oder: „Was steht denn da?“. Solche Fragen zeigen, dass leider viele Leute sich nicht die Zeit nehmen, selbst zu lesen, geschweige denn, sich von dem Gedicht berühren zu lassen.
Durch Zufall erfahre ich die Telefonnummer einer beteiligten Künstlerin und höre, dass am Freitagabend, 18 Uhr, beginnend vor der Buchkantine, eine Präsentation des Projekts geplant sei. Die Künstler nennen ihr Projekt „Häuserzeilen“ – ich fände „Gehwegzeilen“ treffender.
Ich meine, dass die Information der Moabiter BewohnerInnen über das „Häuserzeilen-Projekt“ per Presseerklärung des Bezirksamtes Mitte zu bürokratisch und zu introvertiert war. So nehmen an der Freitagabend-Präsentation vor allem „Kunstprojekt- Insider“ teil, nur ganz wenige AnwohnerInnen.
Es wurde versäumt, die Anwohner zu informieren, sie einzubeziehen und neugierig zu machen. „Fotografieren Sie das für die Polizei?“ wäre ich dann wohl nicht gefragt worden. Oder ich hörte schimpfen: „So eine Schweinerei!“ – mit Blick auf die – wasserlösliche – Schrift auf dem Bürgersteig.
Es gibt aber auch AnwohnerInnen, die sich über die schöne Schrift, die Idee und manche Formulierung freuen.
Die Wettergötter sind dem Projekt wohlgesonnen, noch hat es nicht geregnet. Schon fünf Tage lang kann man das Gedicht lesen. Entziffern. Und wieder lesen. Sich Gedanken machen, was historische oder philosophische Anspielungen wohl bedeuten? Sich freuen über alltägliche Beobachtungen und ihnen zustimmen oder den provozierenden Behauptungen widersprechen. Hoffentlich noch ein paar weitere Tage.
Dank an den Dichter Tobias Roth und die Künstlerin Sophia Pompéry!
26. Juli 2016, B. Nake-Mann
Postscriptum 29. Juli 2016: Am späten Nachmittag des 27. Juli bereiteten die Wettergötter dem Begehbaren Gedicht ein furioses Finale: Gewitterregenwasser „nahm die Kreide mit“, wie im Gedicht schon vorausgesehen. BN-M.