Die Stadtteilvertretung tagte im Rathaus Tiergarten, hier blühen jetzt die Kirschbäume
Am 27. April 2015, in der letzten Sitzung ihrer Wahlperiode, widmete sich die Stadtteilvertretung Aktives Zentrum Turmstraße (STV) auch der vornehmen Aufgabe, mehr demokratische Transparenz des Verwaltungshandelns vom Bezirksamt Mitte einzufordern. Es gab eine längere Diskussion darüber, wie die unverschuldete Unmündigkeit der offiziellen Betroffenenvertretung im Sanierungsgebiet Turmstraße in einem konkreten Fall zu überwinden sei. Seit Monaten verweigert das Bezirksamt die Veröffentlichung des Einzelhandelsgutachtens „Potenzialanalyse für ergänzenden Einzelhandel im Stadtteilzentrum Berlin-Turmstraße unter besonderer Berücksichtigung der Potenzialfläche des ehemaligen Hertie-Warenhauses“ (Autor: Stadt + Handel, Dortmund, Endbericht 25. März 2013, im Auftrag Bezirksamt Mitte). Mehrere Anträge von Bezirksverordneten und der STV auf Veröffentlichung hatte das Bezirksamt (BA) mit fadenscheinigen Begründungen zurückgewiesen, obwohl das Gutachten einen Kernbereich des AZ-Turmstraße und der STV-Arbeit betrifft: die städtebauliche Aufwertung und stabile Rahmenbedingungen für Einzelhandel im Stadtteilzentrum Turmstraße.
Als nun am 27. 04.15 in der Sitzung der STV TOP 4. „Vorstellung des Einzelhandelsgutachtens durch KoSP“ dran ist, stellt Herr Preuss vom Büro KoSP (es betreut das AZ-Programm Turmstraße für den Bezirk) klar, der Tagesordnungspunkt – Vorstellung heute – beruhe auf einem Missverständnis. Sie erfolge durch eine BA-Mitarbeiterin erst in einer weiteren STV-Sitzung. Die Anwesenden sind sich einig, dass das nur Sinn mache, wenn sie vorher das Gutachten zur Kenntnis bekämen.
Das allgemeine Unverständnis über die vom BA bisher verweigerte Veröffentlichung kommt in der Debatte vielfach zur Sprache: fehlende Transparenz von Daten und Fakten zur Entwicklung der Turmstraße, verhinderte Sachinformation für die Zusammenarbeit und für Diskussionen auf Augenhöhe (STV – Verwaltung – Bürgerschaft), der Demokratie unwürdige Geheimnistuerei in gewöhnlichen öffentlichen Angelegenheiten der Stadtplanung (wie im Obrigkeitsstaat), Recht auf freien Zugang zu Informationen der Verwaltung.
Als Herr Preuss vom Büro KoSP meint, der Veröffentlichung stünden wegen persönlicher Daten und Unternehmensdaten im Gutachten Datenschutzgründe im Wege, widerspricht ein anwesender Kenner des Gutachtens vehement. Er legt eine Druckfassung mit seinen Randnotizen vor, um den Widerspruch gegen diese Ausrede zu unterstreichen. Man frage doch den Berliner Datenschutzbeauftragten: das Einzelhandelsgutachten enthält keinerlei schutzwürdige Personendaten oder ähnliches. Es enthält vielmehr, so der Kurzbericht in der STV-Debatte, sehr interessante Informationen über zunehmende Ungleichgewichte der Geschäftsstraßenentwicklung, vor allem durch das geplante riesige Einkaufszentrum auf dem Schultheiss-Areal. Insofern spräche das Gutachten bereits vor über zwei Jahren Probleme an, die durch Urteil des Oberverwaltungsgerichts am 18.12. 2014 zur Umwirksamkeit des Bebauungsplans für das Schultheiss-Projekt führten.
Die STV erwartete nun am Ende der Debatte erst recht, dass das Bezirksamt auch ihr und der Öffentlichkeit endlich das Einzelhandelsgutachten Turmstraße des Büros „Stadt und Handel“ von 2013 zur Verfügung stellt. Herr Preuss bestätigte, dass der auftraggebende Bezirk das Guachten bezahlt hat. Die Frage, ob das Büro KoSP als Betreuer des AZ-Programms Turmstraße das Gutachten bereitstellen könne, verneint er, weil er es nicht habe.
Die Lektüre des Gutachtens lohnt sich auch deshalb, weil man einiges erfährt über Moabiter Kaufkraft, ausreichende und mangelhafte Versorgung mit Waren verschiedener Sortimente, über die Beurteilung der Einkaufsmöglichkeiten und der Attraktivität verschiedener Standorte aus Moabiter Kundensicht. Man erfährt auch, dass das geplante Einkaufszentrum Schultheiss mit 20.000 qm Verkaufsfläche (rund das Doppelte des vorhandenen Einzelhandels der Turmstraße) vom Bezirk und vom Gutachter als Tabu angesehen wird – sprich: als unveränderlich gilt – und sich deshalb alles andere an das EKZ anzupassen hat (z.B. Hertie-Ergänzung entlang Stromstraße, traditionelle Lagen der Turmstraße).
Beunruhigende Folgen stehen auf den letzten Seiten. Die Gutachter verorten nur noch am Ostende der Turmstraße das „konsumige“ Stadtteilzentrum, während sie den zentralen und westlichen Lagen nur eine ergänzende Funktion mit „ethnischen Spezialisierungen“ und „komplementären“ Angeboten zusprechen. Zugleich sehen sie durch das jenseits der Stromstraße isoliert liegende Übergewicht der Handelsflächen im EKZ Schultheiss (für das integrierte Läden im erweiterten Hertieareal in Mithaftung genommen werden) „zukünftig erkennbare Ungleichgewichte“ der Turmstraßenentwicklung. Sie sehen u.a. wegen des geplanten großen Verbrauchermarktes im EKZ Schultheiss (Kaufland) für vorhandene Nahversorgungsstandorte Moabits die Gefahr von Pleiten (genannt „Marktaustritt“), von Umverteilungen innerhalb des Stadtteilzentrums sowie zu Lasten benachbarter Nahversorgungszentren (sprich Moabogen, Markthalle u.a.). Nicht zuletzt ist im Gutachten wegen neuer großer „Magnetmieter“ an der östlichen Turmstraße warnend von einer möglichen „Destabilisierung“ der westlichen Lagen der Turmstraße die Rede. Man lese selbst:
Soll die Stadtteilvertretung darüber nicht informiert werden? Aber sie kann es ähnlich auch in der veröffentlichten Begründung des vernichtenden OVG-Urteils vom 18.12.2014 zum Bebauungsplan Schultheiss erfahren . Siehe hier:
Darauf verwies eine betroffene Bürgerin in der STV am 27. April. Und sie bat die Stadtteilvertretung darum, Korrekturen auszuloten und sich auch mit der vorschnellen Baugenehmigung des Bezirksamtes vom 18.12.2014 zum Schultheissprojekt kritisch zu befassen, mit der das Bezirksamt empörend wenig Respekt vor der Rechtsprechung in gleicher Sache zeigte.
29. April 2015 Reinhard Nake (als Gast)